Paukenschläge aus Luxemburg
In jüngster Zeit sind einige EuGH-Urteile ergangen, die eine eindeutige Botschaft an den deutschen Steuergesetzgeber senden.
EuGH, Urteil vom 12.10.2023 – C-670/21 zu § 13d ErbStG
Das FG Köln (Beschluss vom 02.09.2021 – 7 K 1333/19) legte dem EuGH die Frage vor, ob es mit der Kapitalverkehrsfreiheit vereinbar sei, dass der Erwerb eines bebauten und vermieteten Grundstücks des Privatvermögens, welches in einem Drittstaat (im Entscheidungsfall Kanada) belegen ist, von der Erbschaftsteuerbefreiung für zu Wohnzwecken vermietete Immobilien nach § 13c Abs. 1 und Abs. 3 ErbStG 2009 (nunmehr § 13d Abs. 1 und Abs. 3 ErbStG) ausgeschlossen ist. Der Gesetzgeber qualifiziere den Erwerb von Mietwohnimmobilien unabhängig von deren Lage zwar als erbschaftsteuerpflichtigen Erwerb, mache aber dann den verminderten Wertansatz von der Belegenheit der Immobilie abhängig; hierin liege ein nicht zu rechtfertigender Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH muss eine zulässige Beschränkung des freien Kapitalverkehrs (i) geeignet sein, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten, und (ii) darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist. Die Bundesregierung führte im Fall der Erbschaftsteuervergünstigung für Wohnimmobilien als Rechtfertigung der Ungleichbehandlung die soziale Wohnungspolitik an. Der EuGH verneinte in aller Deutlichkeit bereits die Geeignetheit, da die nationale Regelung nicht speziell für Gebiete besonders großer Wohnungsnot gelte, sondern ganz pauschal im gesamten EU/EWR-Raum. Auch die Gewährleistung einer wirksamen Steueraufsicht greife als zwingender Allgemeingrund nicht. Zwar sei eine Verweigerung des Steuervorteils in Drittstaatensachverhalten dann gerechtfertigt, wenn z.B. wegen fehlender vertraglicher Verpflichtung des Drittstaats zur Auskunftserteilung die notwendigen Auskünfte nicht eingeholt werden können. Besteht allerdings zwischen Deutschland und dem Drittland ein DBA, das eine sog. große Auskunftsklausel enthält (wie im DBA zwischen Deutschland und Kanada), stelle die Gewährleistung der Steueraufsicht keinen Rechtfertigungsgrund dar.
EuGH, Urteil vom 26.02.2019 – C-135/17 zu § 8 AStG
Das deutsche AStG sieht einen Gegenbeweis vor, wonach niedrig besteuerte Einkünfte einer ausländischen Gesellschaft nicht der deutschen sog. Hinzurechnungsbesteuerung unterliegen, wenn die ausländische Gesellschaft in ihrem Sitzstaat über unternehmerische „Substanz“ verfügt (§ 8 Abs. 2 AStG). Diese gesetzliche Möglichkeit des Gegenbeweises gilt ihrem Wortlaut nach nur für ausländische Gesellschaften, die ihren Sitz oder zumindest ihre Geschäftsleitung im EU/EWR-Raum haben (§ 8 Abs. 3 AStG).
Nach Ansicht des EuGH führt die deutsche Hinzurechnung und damit tarifliche Besteuerung von sog. „Zwischeneinkünften mit Kapitalanlagecharakter“ zu einer Beschränkung des freien Kapitalverkehrs, da in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtige Investoren von Investitionen in Gesellschaften, die in Drittländern ansässig sind, hierdurch abgehalten werden. Die einkommensteuerliche Hinzurechnung der Zwischeneinkünfte mit Kapitalanlagecharakter könne zwar durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses wie die Verhinderung von Steuerhinterziehung/-umgehung gerechtfertigt sein. Gleichwohl könne der bloße Umstand, dass eine gebietsansässige Gesellschaft eine Beteiligung an einer anderen, in einem Drittland ansässigen Gesellschaft hält, keine allgemeine Vermutung der Steuerhinterziehung/-umgehung begründen. Die nationale Rechtsnorm beziehe die Einkünfte der Kapitalgesellschaft im Drittland zwingend in die Steuerbemessungsgrundlage des Steuerpflichtigen ein, ohne dass ihm eine Möglichkeit gegeben werde, Anhaltspunkte zu liefern, dass seine Beteiligung nicht auf einer künstlichen Gestaltung beruht. Auch in dieser Entscheidung betont der EuGH, dass die Einräumung der Chance zum Gegenbeweis unter dem Vorbehalt vertraglicher Verpflichtungen zwischen dem Mitgliedstaat und dem Drittland zum Austausch von Informationen stehe, um eine wirksame Steueraufsicht gewährleisten zu können.
EuGH, Urteil vom 26.02.2019 – C-581/17 zu § 6 AStG
Der EuGH hat unter Auslegung des Freizügigkeitsabkommens zwischen den Mitgliedstaaten und der Schweiz festgestellt, dass die deutsche Wegzugsbesteuerung bei Wegzug in die Schweiz zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung des Wegzüglers gegenüber inländischen Umzügen führt. Die nationale Regelung der deutschen Wegzugssteuer sei zwar eine geeignete Maßnahme, um die Aufteilung des Besteuerungsrechts zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland sicherzustellen. Dieses Ziel sei jedoch keine Rechtfertigung dafür, dass eine Stundung der Wegzugssteuer bei Wegzug in die Schweiz unmöglich ist. Der EuGH stellte auch in dieser Entscheidung fest, dass die Wirksamkeit der staatlichen Kontrolle durch den Austausch von Steuerinformationen gewährleistet sein müsse.
Auf Grundlage der Entscheidung des EuGH hat der BFH (Urteil vom 06.09.2023 – I R 35/20) nun jüngst – entgegen der derzeitigen Auffassung der Finanzverwaltung – entschieden, dass die Wegzugsteuer bei Wegzügen in die Schweiz bis zum Anteilsverkauf dauerhaft gestundet werden müsse. Die Finanzverwaltung scheint jedoch nach neuesten Erfahrungen aus der Praxis das Urteil des BFH zumindest bis zu einer Veröffentlichung im BStBl. II nicht anwenden zu wollen.
Fernwirkungen
Der EuGH hat den deutschen Gesetzgeber und die deutsche Finanzverwaltung wegen mangelnder Berücksichtigung der europäischen Grundfreiheiten mit seiner jüngsten Rechtsprechung unmissverständlich in die Schranken gewiesen. Interessant ist der Blick vor allem auf die möglichen Fernwirkungen dieser Entscheidungen, da sich die Argumentationslinie des EuGH ohne große Mühe auch auf weitere Normen des heute gültigen deutschen Steuerrechts übertragen lässt. Zwei Beispiele:
Entlastungsbeweis gemäß § 15 Abs. 6 AStG
Das Außensteuergesetz sieht einen Entlastungsbeweis für die Zurechnung von Einkünften ausländischer Familienstiftungen vor (§ 15 Abs. 6 AStG). Hat eine Familienstiftung ihre Geschäftsleitung oder ihren Sitz im EU/EWR-Raum, sind dem unbeschränkt Steuerpflichtigen unter bestimmten Voraussetzungen die Einkünfte der Familienstiftung nicht zuzurechnen. Die Vorschrift ähnelt ihrem Zweck nach dem Gegenbeweis des § 8 Abs. 2 AStG. Das FG Hessen (Urteil vom 13.07.2022 – 8 K 1419/19) hat entschieden, dass die Ausnahme des § 15 Abs. 6 AStG auch auf Stiftungen in Drittstaaten anzuwenden sei, da die Zurechnungsbesteuerung nach § 15 Abs. 1 AStG ansonsten gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoße (Art. 63 AEUV). Die Beschränkung auf EU/EWR-Sachverhalte sei auch nicht durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses wie die wirksame Bekämpfung von Steuerhinterziehung/-umgehung gerechtfertigt.
Das Verfahren ist derzeit beim BFH (IX R 31/22) anhängig. Es bleibt spannend, ob der BFH die Ansicht des FG Hessen teilt oder ob er die Frage nach der Vereinbarkeit des § 15 Abs. 6 AStG mit den europäischen Grundfreiheiten dem EuGH vorlegen wird. Zieht man die Argumente des EuGH-Urteils zu § 13d ErbStG heran, in welchem eben jene Pauschalität und mangelnde Zweckorientierung der nationalen Vorschrift gerügt wurde, dürfte die Antwort des EuGH bereits heute auf der Hand liegen. Denn ebenso wenig, wie hinsichtlich der Wohnungsnot in § 13d ErbStG differenziert wurde, differenziert § 15 Abs. 6 AStG hinsichtlich der Kapitalanlage. Künftig könnte der Entlastungsbeweis nach § 15 Abs. 6 AStG daher auch bei Familienstiftungen mit Sitz oder Geschäftsleitung in einem Drittstaat greifen, sofern zwischen Deutschland und dem betreffenden Drittstaat ein hinreichender Informationsaustausch zur Durchführung der innerstaatlichen Besteuerung (z.B. große Auskunftsklausel im DBA) stattfindet und damit die wirksame Steueraufsicht gewährleistet ist.
Familienheim nach § 13 Abs. 1 Nrn. 4a, 4b, 4c ErbStG
Nur ein im Inland oder im EU/EWR-Raum belegenes Grundstück kann nach dem deutschen ErbStG ein steuerbefreites Familienheim sein (§ 13 Abs. 1 Nr. 4a, 4b, 4c ErbStG). Obwohl der EuGH bereits 2007 (Urteil vom 18.12.2007 – C-101/05) die Drittstaatengeltung der Kapitalverkehrsfreiheit auch gegenüber steuerlichen Vorschriften bejaht hatte, erweiterte der Gesetzgeber im Rahmen der Erbschaftsteuerreform im Jahr 2009 die Begünstigung geografisch „nur“ auf den EU/EWR-Raum. Im Angesicht der jüngsten EuGH-Rechtsprechung kann der Gesetzgeber an dieser Begrenzung nicht mehr festhalten. Die Rechtfertigung der Beschränkung der Steuerbefreiung wird daran scheitern, dass der deutsche Gesetzgeber nicht nachweisen kann, dass die Ungleichbehandlung notwendig ist, um den Normzweck zu verfolgen. Die Steuerbefreiung des Familienheims begünstigt zwar in erster Linie den Eigentumserwerb am familiären Lebensraum und keine rein wirtschaftliche Investition. Die Entscheidung für einen Eigentumserwerb an Grundbesitz, gleich aus welchem Grund, ist jedoch eine geschützte Wertübertragung. Es gibt keinen Grund, die Begünstigung des familiären Lebensraumes von dessen Belegenheit abhängig zu machen. Die Angst vor einer uferlosen Ausweitung der Befreiungstatbestände ist als Rechtfertigung jedenfalls für das Familienheim nicht geeignet. Der Gesetzgeber ist angehalten, zweckorientierte Kriterien für die Gewährung von Steuerbegünstigungen zu normieren. Die zufällige Belegenheit des Familienheims kann als maßgebliches Kriterium nicht genügen.
Fazit
Die Grundsätze des EuGH lassen sich nicht nur auf die beiden beispielhaft aufgeführten Normen übertragen, sondern dürften auch für viele weitere steuerliche Vorschriften, die eine EU/EWR-Außengrenze vorsehen, gelten. Die jüngste EuGH-Rechtsprechung kann zwar nicht als Appell dahingehend verstanden werden, unbesehen alle Drittstaatensachverhalte in nationale Steuerbegünstigungen einzubeziehen. Der deutsche Steuergesetzgeber ist aber nun höchstrichterlich aufgefordert, zweckorientierte Voraussetzungen zu normieren und Differenzierungen zwischen EU/EWR- und Drittstaatenvermögen zu rechtfertigen, insbesondere dann, wenn der zwischenstaatliche Informationsaustausch und damit die wirksame Steueraufsicht hinreichend gewährleistet ist. Es wäre zu hoffen, dass die Rechtsprechung des EuGH auf den deutschen Gesetzgeber disziplinarische Wirkung entfaltet. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die betreffenden nationalen Normen weiterhin über die Gerichte die jeweils europarechtlich gebotene geografische Erweiterung erfahren müssen.
Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in: DER BETRIEB, Steuerboard, 27. Februar 2024