Offensichtlich und viel beschrieben ist, dass die Steuerberatung selbst einem Digitalisierungsprozess unterworfen sein wird (elektronische Steuerakten; Datenauswertung durch KI, etc.). Nicht weniger spannend ist aber die Frage, wie sich das materielle Steuerrecht, die Auslegung und Interpretation der Steuergesetze selbst durch digitale Innovationen verändern wird. Dieser Themenkreis soll hier exemplarisch anhand der Einkünfte aus freiberuflicher Tätigkeit am Beispiel von Neuralink aufgeworfen werden.
Brain Computer Interfaces
Ende August 2020 präsentierte Technik-Ikone Elon Musk den aktuellen Forschungs- und Entwicklungsstand seines Unternehmens Neuralink. Die Vision: Ein in die Schädeldecke eingesetzter Chip, der eine Schnittstelle zwischen Internet und dem Nervensystem des Trägers bildet (Brain-Computer-Interface, kurz: BCI). Die Idee lässt sich schematisiert als ein ins Gehirn eingebautes Smartphone erfassen. Zugegeben, aktuell ist die Neurotechnologie noch weit von einem Produkt entfernt, das es dem Träger ermöglichen würde, mit bloßer Gedankenkraft Informationen im Internet abzurufen oder mit seiner Umwelt z.B. in einer nicht erlernten Fremdsprache in Kontakt zu treten. Nichtsdestoweniger befassen sich mehr und mehr Forscher sowie Autoren – gerade unter Berücksichtigung der immer schneller voranschreitenden Technisierung – zunehmend mit einer Welt, in der Mensch und Maschine weiter verschmelzen. Grund genug auch einige grundlegende steuerliche Fragen aufzuwerfen, die sich aus der Vereinigung von Mensch und Computernetzwerken ergeben könnten.
Freiberufliche Tätigkeit als höchstpersönliche Tätigkeit
Die im deutschen Steuerrecht wohl augenscheinlichste Ausprägung unseres humanistischen Weltbildes findet sich in § 18 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 EStG. Mit der Einordnung einer Tätigkeit als „freiberuflich“ grenzt der Gesetzgeber qualifizierte eigenverantwortliche und damit höchstpersönlich durchgeführte Tätigkeiten eines Steuerpflichtigen von „bloßen“ sonstigen gewerblichen Tätigkeiten ab. Der Gesetzgeber und die Gerichte gehen an dieser Stelle nach wie vor von einem „Typus“ des freien Berufs aus, der sich vom sonst selbstständigen, nachhaltigen und mit Gewinnerzielungsabsicht tätigen Gewerbetreibenden unterscheidet.
Diese Abgrenzung ist nach Ansicht des BVerfG gerechtfertigt, denn freie Berufe unterscheiden sich durch „eine Reihe von Besonderheiten in der Ausbildung, der staatlichen und berufsautonomen Regelung ihrer Berufsausübung, ihrer Stellung im Sozialgefüge, der Art und Weise der Erbringung ihrer Dienstleistungen und auch des Einsatzes der Produktionsmittel Arbeit und Kapital […]“ (BVerfG, Urteil vom 15.01.2008 – 1 BvL 2/04). Als maßgebenden Faktor sah auch der BFH seit jeher an, dass „der Einsatz von Kapital gegenüber der geistigen Arbeit und der eigenen Arbeitskraft in den Hintergrund tritt“ (BFH, Urteil vom 10.10.1963 – IV 198/62 S).
In dieser Auffassung scheint noch immer die althergebrachte Sonderstellung der artes liberales in unserer Gesellschaft durch. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Gerichte halten den humanistischen Gedanken unserer Zeit bis in Einzelnormen des deutschen Steuerrechts hinein hoch – vor dem Hintergrund der Werteordnung unseres Grundgesetzes mit gutem Grund. Der freie Wille und die aus freien Gedanken gespeiste Schaffenskraft eines Individuums werden zur leitenden Autorität erhoben und sollen den Unterschied in der Besteuerung rechtfertigen, hier ganz konkret der Freiheit von Gewerbesteuer.
Hält der Typus des Freiberuflers einer Vereinigung mit Maschinen Stand?
Bereits auf Basis des aktuellen Standes der Technologie sieht sich die Rechtfertigung für eine unterschiedliche Besteuerung von Freiberuflern und Gewerbetreibenden vielfältiger (steuerrechtlicher) Kritik ausgesetzt. Mehrere Autoren in der steuerlichen Literatur halten die Differenzierung sowohl vor dem Hintergrund des Leistungsfähigkeitsprinzips als auch des kommunalsteuerlichen Äquivalenzprinzips für nicht gerechtfertigt.
Dieser überkommende Streitstand wird freilich auf eine neue Ebene gehoben und dürfte den Kritikern endgültig Recht geben, wenn die den freien Berufen zugrunde liegende Prämisse durch den technologischen Wandel überholt wird. Erfahren die elektro-chemischen Prozesse im Gehirn eine Kopplung mit nicht-organischen Algorithmen und bekommt der Mensch erst durch diese Technologie Zugang zu erweiterten Fähigkeiten oder auch bloß erhöhte Geschwindigkeiten neuronaler Prozesse, die er im Wettbewerb des Marktes für die Ausübung seiner freiberuflichen Tätigkeit benötigt, lässt sich das Weltbild vom freien Willen des Homo Sapiens möglicherweise nicht mehr bedingungslos aufrecht erhalten. Kann der in unserem humanistischen Weltbild hochgehaltene menschliche Wille verändert und erweitert werden, wird man einräumen müssen, dass Prozesse im Kopf eines in dieser Weise „optimierten“ Freiberuflers ebenso wenig eigenverantwortlich und höchstpersönlich stattfinden wie die Prozesse in einem Amazon-Lagerhaus oder einer Tesla-Gigafactory. Die Unterscheidung von Einkünften aus freiberuflicher Tätigkeit und Einkünften aus sonstiger gewerblicher Tätigkeit erscheint spätestens in diesem Szenario nicht mehr haltbar.
Sicherlich würde eine derartige Veränderung unseres Weltbildes zu viel gravierenderen Anpassungen führen als jenen im deutschen Steuerrecht. Das hier skizzierte Gedankenspiel zeigt jedoch, dass auch das deutsche Steuerrecht im technologischen Wandel gehalten ist, nicht nur Einzelregelungen, sondern auch seine Grundfeste zu hinterfragen und idealerweise zeitlich synchron an die technologische Lebenswirklichkeit anzupassen.
Dieser Beitrag ist erstmals erschienen in: Handelsblatt online, Steuerboard, 28. Oktober 2020