Das Wichtigste in Kürze
Der I. Senat des BFH hat entschieden, dass bei Wegzügen in die Schweiz im Hinblick auf das geltende Freizügigkeitsabkommen zwischen der EU und der Schweiz eine bis zur tatsächlichen Veräußerung andauernde, zinslose Stundung der deutschen Wegzugssteuer geboten ist. Das Urteil gilt unmittelbar jedenfalls für alle Wegzüge bis zum 31. Dezember 2021. Die Stundung soll jedoch von einer Sicherheitsleistung abhängig gemacht werden können.
Ausgangslage
Die Rechtssache „Wächtler“ trägt ihren Namen im Hinblick auf den Kläger und ist nun nach über zehn Jahren Verfahrensdauer und vier Gerichtsentscheidungen zu einem Ende gekommen. Herr Wächtler war 2011 in die Schweiz verzogen. Aufgrund seiner Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft in der Schweiz hatte das deutsche Finanzamt die Wegzugssteuer gem. § 6 AStG gegen ihn festgesetzt. Hiergegen wandte sich Herr Wächtler vor dem Finanzgericht Baden-Württemberg (FG BaWü), welches die Rechtsfrage der Vereinbarkeit der deutschen Wegzugssteuer mit der Niederlassungsfreiheit nach dem Freizügigkeitsabkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der EU und der Schweiz dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte.
Der EuGH hat in seiner Entscheidung vom 26. Februar 2019 (Az. C-581/17 – Wächtler) klar geäußert, dass die deutsche Wegzugssteuer bei Wegzug in die Schweiz zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung des Wegzüglers gegenüber inländischen Umzügen führt. Auf dieser Grundlage hat das FG BaWü in der Folgeentscheidung vom 31. August 2020 (Az. 2 K 835/19) die Festsetzung der Wegzugssteuer insgesamt für rechtswidrig erklärt, da eine Steuerfestsetzung nach den existierenden deutschen Steuervorschriften unter Einhaltung der vom EuGH aufgestellten Vorgaben gar nicht möglich sei. Die deutsche Finanzverwaltung ist hiergegen in Revision vor den BFH gegangen.
Entscheidung des BFH
Der BFH hat die Klage von Herrn Wächtler im Gegensatz zur Vorinstanz zwar abgewiesen. Zugleich hat der BFH die Rechte von Wegzüglern in die Schweiz aber substantiell gestärkt.
Die Entscheidung des EuGH führt nach Ansicht des BFH nicht dazu, dass die Wegzugssteuer schon nicht vom Finanzamt festgesetzt werden kann. Denn das deutsche Steuergesetz könne geltungserhaltend unionsrechtskonform ausgelegt werden. In einem ersten Schritt ist die Festsetzung der deutschen Wegzugssteuer hiernach zulässig. Der I. Senat des BFH lässt allerdings keine Zweifel daran, dass die Wegzugssteuer bei Wegzügen in die Schweiz in einem zweiten Schritt bis zur tatsächlichen Anteilsveräußerung dauerhaft gestundet werden muss. Die Stundung muss für die gesamte Steuer ausgesprochen werden und zinslos erfolgen, da andernfalls der Wegzügler nach der Schweiz einen Liquiditätsnachteil gegenüber dem innerstaatlichen Umzügler hätte. Diese Stundung kann selbst noch geboten sein, wenn die zugrundeliegende Steuer bereits entrichtet ist.
Mit seinem Urteil vom 6. September 2023 stellt sich der BFH ferner klar gegen das BMF-Schreiben vom 13. November 2019, welches gerade keine dauerhafte Stundung, sondern die Gewährung eine Ratenzahlung bei Wegzug in die Schweiz bereits als ausreichend zur Wahrung der Vorgaben des EuGH ansah. Lediglich die Anforderung einer Sicherheitsleistung vom Steuerpflichtigen für die gestundete Wegzugssteuer angesichts möglicher Beitreibungsschwierigkeiten soll nach Ansicht des BFH noch zulässig bleiben.
Offene Fragen und Ausblick
Das BFH-Urteil vom 6. September 2023 betrifft in erster Linie nur den entschiedenen Einzelfall. Es bleibt abzuwarten, ob die Finanzverwaltung ihre deutlich strengere bisherige Rechtsauffassung aufgibt oder unter Umständen die Nichtanwendung des Urteils über den entschiedenen Einzelfall hinaus verfügt.
Ungeachtet dessen hat die BFH-Entscheidung nach unserer Einschätzung grundlegende Bedeutung für eine Vielzahl weiterer Wegzugsfälle. Einerseits ist die Wegzugssteuer für alle Steuerpflichtigen, die bis zum 31. Dezember 2021 in die Schweiz verzogen sind und in den Anwendungsbereich des Freizügigkeitsabkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der EU und der Schweiz fallen, nunmehr auf Grundlage des Urteils bis zur tatsächlichen Veräußerung dauerhaft und zinslos zu stunden. In allen noch offenen Fällen sollten die zuständigen Finanzämter daher zeitnah angeschrieben werden. Ein entsprechender Antrag kann auch noch gestellt werden, wenn die Wegzugsteuer bereits entrichtet wurde, was zu einer Rückerstattung der Steuer führen sollte.
Darüber hinaus hat die Entscheidung auch eine wichtige Signalwirkung für die neue Gesetzeslage, welche für alle Wegzüge ab 1. Januar 2022 die dauerhafte Stundung abgeschafft hat. Zwar macht das neue Recht keinen Unterschied mehr zwischen Wegzügen in einen anderen EU-/EWR-Staat einerseits und in die Schweiz andererseits, aber es weitet die vom EuGH beanstandete Benachteiligung von Wegzügen in das Ausland gegenüber rein inländischen Umzügen sogar auf EU-/EWR-Wegzugsfälle aus. Daher ist zu erwarten, dass der BFH auch unter der neuen Gesetzeslage eine dauerhafte zinslose Stundung der Wegzugssteuer bis zum tatsächlichen Anteilsverkauf für sämtliche Wegzüge in andere EU-/EWR-Staaten oder in die Schweiz verlangen wird. Die Möglichkeit, eine Sicherheitsleistung zu verlangen, wird aber voraussichtlich bestehen bleiben, was für Wegzügler in die Schweiz auch künftig, je nach konkreter Fallkonstellation, ein potentiell gewichtiges Hindernis bleiben dürfte.
Schließlich hat der Gesetzgeber sowohl unter dem neuen Recht für Wegzüge ab dem 1. Januar 2022 als auch – nachträglich vor wenigen Wochen im Rahmen des sog. globalen Mindestbesteuerungsgesetzes – für Wegzüge bis zum 31. Dezember 2021 einen Widerruf der Stundung der Wegzugssteuer vorgesehen, soweit aus der Gesellschaft, deren Anteile mit der Wegzugssteuer belegt sind, Ausschüttungen von Gewinnen oder Einlagen erfolgen, deren Betrag einen Wert von 25% des sog. gemeinen Werts dieser Anteile im Zeitpunkt des Wegzugs übersteigt. Diese faktische Ausschüttungssperre steht angesichts des Urteils des BFH ebenfalls zur Dis-position: Denn eine solche ratierliche Zahlung der Wegzugssteuer bedeutet für den ins Ausland weggezogenen Steuerpflichtigen im Vergleich zum rein inländischen Umzug ebenfalls einen (diskriminierenden) Liquiditätsnachteil.
Die Reaktion der Finanzverwaltung und des Steuergesetzgebers auf das BFH-Urteil vom 6. September 2023 ist mit Spannung zu er-warten. Alle in einen anderen EU-/EWR-Mitgliedsstaat oder in die Schweiz weggezogenen und von der Wegzugssteuer betroffenen Steuerpflichtigen sollten Antrag auf dauerhafte fristlose Stundung stellen und die jetzt vom BFH anerkannten Rechte von der Finanzverwaltung einfordern.