Am 3. Juli 2016 – und damit gut zwei Wochen nach Fertigstellung dieses Beitrags – wird die neue Marktmissbrauchsverordnung der Europäischen Union (MMVO) in den Mitgliedstaaten wirksam. Sie bringt eine grundlegende Neuregelung des gesamten Marktmissbrauchsrechts: Zentrale Regelungsbereiche des europäischen Kapitalmarktrechts – Insiderrecht, Ad-hoc-Publizität, Directors’ Dealings und das Verbot der Marktmanipulation – werden fortan nicht mehr durch einzelstaatliche Gesetze geregelt, wie es in Deutschland bisher insbesondere durch das Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) der Fall ist. Vielmehr gilt ab diesem Zeitpunkt einheitlich und unmittelbar in allen EU-Mitgliedstaaten die MMVO.
Die Emittenten von Finanzinstrumenten werden dann wesentlich strengeren Anforderungen als bisher unterliegen. Zudem werden die Sanktionen für Rechtsverstöße deutlich verschärft. Die relativ betrachtet weitreichendsten Veränderungen kommen dabei auf Unternehmen zu, deren Aktien (auf eigene Initiative hin) im Freiverkehr gehandelt werden.
Dabei handelt es sich häufig um mittelständisch geprägte Unternehmen, bei denen maßgebliche Aktienpakete vom Management oder einer Unternehmerfamilie gehalten werden. Mit der Notierung im Freiverkehr sind für Unternehmen im Vergleich zum regulierten Markt bislang erhebliche regulatorische Erleichterungen verbunden. So finden für diese Unternehmen nur das Insiderverbot und das Verbot der Marktmanipulation Anwendung. Außerdem sind Unternehmen im Freiverkehr grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, kursrelevante Informationen über das Unternehmen und seine Aktien unverzüglich in einer Ad-hoc-Mitteilung zu veröffentlichen. Auch wenn die Geschäftsbedingungen der verschiedenen Börsen vergleichbare Verpflichtungen zur Veröffentlichung wesentlicher Informationen enthalten („Quasi-Ad-hoc-Publizität“), wird deren Einhaltung bislang weit weniger streng überwacht, als es im regulierten Markt durch die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) der Fall ist.
Ferner besteht für im Freiverkehr notierte Unternehmen keine Pflicht, Geschäfte von Führungspersonen oder diesen nahestehenden Personen anzuzeigen (Directors’ Dealings). Eine weitere Erleichterung für Unternehmen im Freiverkehr besteht bislang darin, dass keine Insiderlisten geführt werden müssen.
Künftig drastisch erweiterter Pflichtenkatalog für Unternehmen im Freiverkehr
Die MMVO weitet den Anwendungsbereich der vorgenannten Publizitätspflichten auch auf solche Unternehmen aus, deren Aktien im Freiverkehr gehandelt werden. Die betroffenen Unternehmen werden nunmehr fortlaufend sehr sorgfältig zu prüfen haben, ob Entwicklungen innerhalb des Unternehmens als Insiderinformationen anzusehen sind und eine Verpflichtung zur Ad-hoc-Mitteilung besteht. Zudem sieht die MMVO die Pflicht vor, Insiderlisten zu führen, in denen sämtliche im Unternehmen tätige Personen mit Zugang zu Insiderinformationen aufgeführt sind. Im Hinblick auf mögliche Directors’ Dealings wird das Unternehmen eine Liste der Führungskräfte und der ihnen nahestehenden Personen führen und aktuell halten müssen. Diese sind außerdem über die ihnen obliegenden Mitteilungspflichten aufzuklären.
Hinzu kommt, dass die für Unternehmen im Freiverkehr schon jetzt geltenden Regelungen zum Insiderverbot und dem Verbot der Marktmanipulation durch die MMVO präzisiert und teilweise ausgeweitet wurden. Die neuen Verpflichtungen und die fortlaufende Überwachung ihrer Einhaltung werden bei Unternehmen im Freiverkehr zu beachtlichem Mehraufwand führen. Insbesondere ist eine umfassende Weiterentwicklung der unternehmensinternen Kapitalmarkt-Compliance unumgänglich. Dies gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil Verstöße gegen die MMVO mit empfindlichen Bußgeldern geahndet werden und sogar strafrechtliche Konsequenzen haben können.
Vor allem für kleine und mittlere börsennotierte Unternehmen kann der weitgehende Pflichtenkatalog der MMVO problematisch sein. Diese Unternehmen verfügen häufig nur über geringe personelle Kapazitäten und eine begrenzte Finanzkraft. Es gilt daher für sie, vorhandene Möglichkeiten einer Befreiung auszuloten und gegebenenfalls wahrzunehmen. Insiderinformationen von Emittenten, deren Aktien an einem KMU-Wachstumsmarkt zum Handel zugelassen sind, können beispielsweise auf der Website des Handelsplatzes anstatt auf der Website des Emittenten angezeigt werden, falls die betreffende Börse sich für die Bereitstellung dieser Möglichkeit entscheidet. Auch müssen dann keine Insiderlisten geführt werden, wenn von Seiten des Unternehmens Maßnahmen zur Einhaltung der Insiderregeln ergriffen werden und der Aufsichtsbehörde auf Verlangen eine Insiderliste bereitgestellt werden kann.
Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) ist zudem dazu aufgerufen, Leitlinien zu erlassen, die es den Emittenten erleichtern, ihrer Pflicht zur Offenlegung ohne unnötigen Verwaltungsaufwand nachzukommen. Ein merklicher Deregulierungseffekt ist dadurch allerdings kaum zu erwarten.
Da sich das erforderliche Maß an Transparenz und damit auch der administrative Aufwand deutlich erhöht, entfällt mit den Änderungen durch die MMVO ein wesentlicher Vorteil der Notierung im Freiverkehr. Einige Vorteile bleiben gleichwohl bestehen. So müssen z. B. wesentliche Beteiligungen an der Gesellschaft nicht offengelegt werden. Im Übrigen besteht keine Pflicht zur Bilanzierung nach IFRS und es sind – zumindest sofern nicht in der jeweiligen Börsenordnung vorgesehen – keine Halbjahresberichte zu erstellen. Ferner sind die übernahmerechtlichen Vorschriften nicht anwendbar. Auch dies ist jedoch nicht ohne Weiteres nur als Vorteil anzusehen, da das Übernahmerecht dem Emittenten gerade auch Schutz vor feindlichen Übernahmen bietet.
Blick auf Alternativen zum Freiverkehr als Konsequenz?
In der Konsequenz sollten sich im Freiverkehr notierte Unternehmen Angesichts der Änderungen durch die MMVO kritisch mit der Frage auseinandersetzen, ob die Vorteile dieses Segments für sie nach wie vor tragen. Eine Alternative kann etwa der Wechsel in den regulierten Markt darstellen. Die Aufnahme von Kapital ist hier gegenüber dem Freiverkehr erleichtert, da ein größerer Kreis potentieller Anleger zur Verfügung steht. Umgekehrt sollte in Anbetracht des zu erwartenden Verwaltungs- und Kostenaufwandes und der drohenden Sanktionen bei Verstößen gegen die MMVO auch die Beschränkung auf eine alternative Finanzierung und ein damit verbundener Rückzug vom Börsenparkett (sog. Delisting) stets als Handlungsmöglichkeit einbezogen werden.
Die Regelungen der MMVO geben im Freiverkehr notierten Unternehmen Anlass dazu, die Notierung in diesem Segment kritisch auf den Prüfstand zu stellen und Vor- und Nachteile unternehmensindividuell zu analysieren. Dazu gehört zunächst eine Bestandsaufnahme der bisherigen Kapitalmarkt-Compliance. Weiter ist zu klären, welche Maßnahmen getroffen werden müssen, um die fortlaufende praktische Einhaltung der MMVO zu gewährleisten, und insbesondere, welche Kosten hierfür anfallen. Entscheidet sich ein bislang im Freiverkehr notiertes Unternehmen dafür, in diesem Segment zu verbleiben, wird dies regelmäßig eine umfassende Schulung seiner Mitarbeiter einschließlich der Führungsebenen erfordern. Dies gilt gerade auch dann, wenn die punktuellen Befreiungen der MMVO wirksam in Anspruch genommen werden sollen.
Möchte man den Verschärfungen des Insiderrechts aus Unternehmenssicht etwas Positives abgewinnen, dann könnte eine erweiterte Transparenz zumindest eine positive Signalwirkung gegenüber den Anlegern und dem sonstigen Unternehmensumfeld haben und damit das Segment des Freiverkehrs insgesamt aufwerten. Messbar ist ein solcher Effekt indes kaum. Festhalten lässt sich jedenfalls, dass die Grenzen zwischen reguliertem Markt und Freiverkehr durch die MMVO fließender werden – wie dargelegt nicht nur zum Wohle mittelständischer Unternehmen.